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Nancy Fraser 2008

Nancy Fraser (* 20. Mai 1947 in Baltimore) ist Philosophin und eine der bekanntesten US-amerikanischen Feministinnen.

Leben

Fraser wuchs in Baltimore, Maryland, in einer jüdisch geprägten Familie auf. Ihr Vater ist Nachfahre osteuropäischer, jüdischer Immigranten. Ihre Mutter hat irisch-katholische Wurzeln.[1]

Fraser, die 1980 an der City University of New York zur Ph.D. promoviert wurde, ist derzeit Henry and Louise A. Loeb Professor of Philosophy and Politics an der New School in New York City.[2] 2010 wurde sie mit dem Alfred-Schütz-Preis der American Philosophical Association und der Ehrendoktorschaft Nationalen Universität Córdoba in Argentinien ausgezeichnet. Von 2008 bis 2010 war sie Inhaberin eines Blaise Pascal International Research Chair an der École des hautes études en sciences sociales in Paris. Darüber hinaus war sie Gastprofessorin und Gastwissenschaftlerin an verschiedenen Hochschulen und Instituten, darunter am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie lehrte unter anderem an der Northwestern University, der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Reichsuniversität Groningen (Niederlande) und der Universität der Balearen in Palma de Mallorca.[3] Von 2011 bis 2014 war Fraser Einstein Visiting Fellow am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der FU Berlin.[4] Im Juni 2022 hielt sie die Walter-Benjamin-Vorlesungen der Humboldt-Universität zu Berlin,[5] im Mai 2023 Gastvorlesungen an der Panthéon-Sorbonne-Universität[6] und dem durch ENS-Studierende ausgerichteten Marx-Seminar.[7]

Fraser ist eine ehemalige Mitherausgeberin von Constellations, einer internationalen Zeitschrift für Kritische Theorie und Demokratieforschung.[8] Aktuell (2023) gehört sie dem Redaktionsbeirat (Editorial Council) der Zeitschrift an.[9]

2017/18 war sie Präsidentin der American Philosophical Association (Eastern Division).[10] Seit 2019 ist sie Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.[11]

Positionen

Seit 2009 beschäftigt sich Fraser mit der Vereinnahmung des Feminismus der zweiten Frauenbewegung (ab den 1960er Jahren) durch den neoliberalen Kapitalismus. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der „List der Geschichte“.[12][13][14][15] Mit dem Erstarken von Globalisierung und Neoliberalismus haben sich die Linken nach Fraser ein neues Betätigungsfeld gesucht. Weil ihnen die Mittel aus der Hand genommen wurden, die soziale Frage machtpolitisch zu stellen, verlegten die Linken sich auf das Feld einer symbolischen Anerkennung: Niemand dürfe als Konsument diskriminiert werden. Damit schlossen sie unwillentlich ein Bündnis, das Nancy Fraser „progressiven Neoliberalismus“ nennt.[16]

Insbesondere die Frauenbewegung habe – wie auch andere aufstrebende progressive Bewegungen – den Fehler begangen, die Sache des sozialen Ausgleichs einem falschen „Emanzipationsverständnis unter den Vorzeichen der Leistung, der Diversität und des Empowerments“ mit hohem moralischen Anspruch zu opfern, sich für den „Aufbau einer meritokratischen Leistungsgesellschaft“ engagiert, den „Sturm auf die Führungsetagen propagiert“ und die einfache Dienstleistungsarbeit auf „arme, farbige Migrantinnen“ abgewälzt, während die „alte Industrie auf den Hund kam“.[17] Dieser neoliberale Feminismus habe eine reine Anerkennungs- oder Differenzpolitik betrieben.

Im Juni 2022 erklärte Fraser in einem Interview mit Christoph David Piorkowski in Berlin, dass es im Kapitalismus eine dreifache Ausbeutungsstruktur gebe: Die „offizielle Arbeit“ im kapitalistischen Zentrum könne nur deshalb profitabel sein, weil an der Peripherie des Systems billige Ressourcen durch meist nicht-weiße Menschen in Verhältnissen erarbeitet werden, die schon nicht mehr Ausbeutung bedeuteten, sondern richtiger als „Enteignung“ zu bezeichnen seien, und sich das System zudem auf „unbezahlte Care-Arbeit“ – meist von Frauen – stütze. Die „soziokulturellen Trennungen“ seien „ebenso relevant wie der ökonomische Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital“. Es sei typisch für den Liberalismus, dass er – bei formaler Gleichheit – doch vielen jene Ressourcen vorenthalte, „die für eine effektive Ausübung ihrer Freiheit notwendig“ seien. Den „Aufstieg des rechten Populismus“ betrachtet Fraser als „allergische Reaktion auf das Bündnis einer oberflächlichen Emanzipationsbewegung mit dem Kapital“ im angeblich progressiven Neoliberalismus. Es brauche ein breites progressives Bündnis von Feminismus, Antirassismus und marxistisch inspiriertem Klassenkampf, um die Ausbeutung zu überwinden. Die kritische Theorie könne nicht die konkrete Antwort dafür geben, sondern diese müsse „in einem kollektiven gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gefunden werden“. Der Kapitalismus habe sich immer wieder transformiert und sie sage nicht, dass es ausgeschlossen sei ihn zu reformieren, doch sie glaube, es brauche „ein gänzlich anderes System“. Die „permanente Umwandlung von natürlichen, gesellschaftlichen und menschlichen Ressourcen in Profite“ schleife die „Hintergrundbedingungen“ des Kapitalismus, insofern sei er „letztlich kannibalistisch.“[18]

Fraser plädiert für eine Einhegung der Marktwirtschaft auf den Bereich unbedenklicher, individueller Konsumentscheidungen, deren Angebot beispielsweise durch Genossenschaften bereitgestellt[19] werden könne. Demnach sollten Grundbedürfnisse durch öffentliche Güter erfüllt und betriebswirtschaftliche Mehrprodukte (surplus allocation) vergesellschaftet werden. Sie fasste dies 2022 in Der Allesfresser mit dem Ausspruch „No markets at the bottom, no markets at the top, possibly some markets in the in-between“ (Keine Märkte an der Basis, keine Märkte an der Spitze, vielleicht ein paar Märkte dazwischen) zusammen.[20]

Fraser unterzeichnete einen offenen Brief mit dem Titel »Philosophy for Palestine«, der am 1. November 2023 erschien, in dem es unter anderem heißt:

»Wir sind eine Gruppe von Philosophieprofessoren in Nordamerika und Europa, die öffentlich und unmissverständlich unsere Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck zu bringen; wir verurteilen und das anhaltende Massaker, das Israel mit voller finanzieller, materieller und ideologischer Unterstützung unserer eigenen Regierungen gegen den Gazastreifen verübt. ... Menschen, die ein Gewissen haben, müssen ihre Stimme gegen diese Gräueltaten erheben. Das ist kein schwieriger Schritt; viel schwieriger ist es für uns, uns schweigend und mitschuldig von einem sich entfaltenden Völkermord abzuwenden. ... Die Blockade des Gazastreifens dauert seit 16 Jahren, die Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens seit 56 Jahren und die Enteignung der Palästinenser von ihrem Land und ihren Häusern im gesamten historischen Palästina seit einem dreiviertel Jahrhundert, seit der Gründung Israels als ethnisch-suprematistischer Staat im Jahr 1948 an.«[21]

Der Brief wurde von mehr als 200 Wissenschaftlern unterschrieben, darunter Linda Martín Alcoff, Louise Antony, Étienne Balibar, Judith Butler, Alex Callinicos, Angela Y. Davis, Owen Flanagan, Sally Haslanger, Joy James, Serene Khader, Joseph Levine, Giovanni Poggi, Catherine Rowett, Olúfẹ́mi O. Táíwò und George Yancy. Seyla Benhabib bezeichnete den Brief hingegen als »blamables Zeugnis intellektueller Borniertheit«. Nancy Fraser entgegnete in einem Interview: »Benhabib stellt fälschlich fest, wir würden die Hamas unterstützen – als hätte diese Organisation die Vorreiterrolle bei der Befreiung Palästinas inne. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.«[22]

Kritik

Kritiker sehen in Frasers Kritik am Differenzfeminismus, die sich rückblickend auch auf Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre bezieht, eine Karikatur der Politik der Neuen Linken dieser Zeit, eine Generalabrechnung mit den 1968ern „und allem, was daraus folgte, [...] um anschließend wieder in den verrosteten Heimathafen der alten Linken mit ihrem Haupt-/Nebenwiderspruchs-Denken und der Unterordnung aller anderen Themen, Anliegen und Bewegungen unter die Hegemonie der ‚Arbeiterbewegung‘ [...] einzulaufen“. Diesen Bewegungen sei es um weit mehr als Anerkennung gegangen.[23]

Veröffentlichungen (Auswahl)

Originalschriften

  • Reframing Justice in a Globalizing World. In: New Left Review. Bd. 36, 2005 (online)
  • Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet—and What We Can Do About It, Verso, London 2022, ISBN 978-1-83976-123-2.

Schriften in deutscher Übersetzung (Auswahl)

  • Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates („Justice interruptus“). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-11743-2.
  • Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11810-7 (zusammen mit Seyla Benhabib, Judith Butler und Drucilla Cornell)
  • Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-29060-6 (zusammen mit Axel Honneth)
  • Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht („Unruly practices“). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-11726-2.
  • „Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus“ (Original: The End of Progressive Neoliberalism), erschienen im dissentmagazine Januar 2017 in Englisch (online), in deutscher Übersetzung online bei Blätter für deutsche und internationale Politik
  • Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, herausgegeben von Hanna Ketterer und Karina Becker. Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-29862-6.
  • mit Rahel Jaeggi: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Suhrkamp, Berlin 2020, ISBN 978-3-518-29907-4.
  • Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt (Original: Cannibal Capitalism. How our System is Devouring Democracy, Care, and the Planet – and What We Can Do About It), Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 978-3-518-02983-1.

Weblinks

Commons: Nancy Fraser – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Laura Lee Downs, Interviewed by Jacqueline Laufer: Nancy Fraser, Rebel Philosopher. In: Travail, genre et sociétés. Band 27, Nr. 1. Cairn.info, S. 5–27 (cairn-int.info).
  2. Angaben zur Biographie beruhen, wenn nicht anders belegt, auf: Nancy Fraser an der New School for Social Research
  3. Nancy Fraser an der New School for Social Research
  4. Nancy Fraser
  5. Walter Benjamin Lectures 2022 with Nancy Fraser: Three Faces of Capitalist Labor: Uncovering the Hidden Ties among Gender, Race, and Class. In: Veranstaltungskalender der Humboldt-Universitaet zu Berlin. Humboldt-Universität zu Berlin. Institut für Philosophie. Humanities and Social Change Center, Juni 2023, abgerufen am 26. Juni 2023 (englisch, deutsch).
  6. Première conférence de Nancy Fraser | UFR de Philosophie. Abgerufen am 12. Juli 2023 (französisch).
  7. adlc: Conférence de Nancy Fraser : “Système, norme et crise : éléments pour une théorie critique de la société capitaliste”. In: les armes de la critique. 13. Mai 2023, abgerufen am 12. Juli 2023 (französisch).
  8. Goethe-Universität Frankfurt, Justicia Amplificata : Nancy Fraser
  9. Constellations: Editorial board
  10. American Philosophical Association: Past Eastern Division Officers
  11. American Academy of Arts and Sciences: Nancy Fraser
  12. Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung. Wiesbaden 2012, S. 13.
  13. Cornelia Klinger: Gender in Troubled Times. Zur Koinzidenz von Feminismus und Neoliberalismus. In: Anne Fleig (Hrsg.): Die Zukunft von Gender. Begriff und Zeitdiagnose. Frankfurt/ New York 2014, S. 134: „[...] die feministischen Intentionen hätten die neoliberale Transformation der kapitalistischen Gesellschaft regelrecht befördert, wenn nicht sogar gerechtfertigt.“
  14. Nancy Fraser: Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte 2009. (altneu.han-solo.net, PDF)
  15. Vgl. Nancy Fraser: Neoliberalismus und Feminismus: Eine gefährliche Liaison. 2013. (blaetter.de)
  16. Fraser: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. 2003.
  17. Nancy Fraser: Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In: Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Die große Regression. Berlin 2017, S. 77–91, hier S. 80, 81, 90.
  18. Nancy Fraser im Gespräch: Der Kapitalismus ist kannibalistisch. Interview und Übersetzung durch Christoph David Piorkowski. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 8/2022, S. 65–72.
  19. Lukas Ondreka: #216 Nancy Fraser: "Capitalism is cannibalizing our lives". In: Dissens Podcast. 14. Juni 2023, abgerufen am 23. Juni 2023 (deutsch, englisch).
  20. Nancy Fraser: Cannibal Capitalism. How our system is devouring democracy, care, and the planet - and what we can do about it. Verso, London / New York 2022, ISBN 978-1-83976-123-2, S. 156 f.
  21. Philosophy for Palestine Google Drive.
  22. Tania Martini: Mainstream der Avantgarde taz, 10. November 2023; Ronald Pohl: US-Philosophin Nancy Fraser: »Niemand verharmlost Hamas« Der Standard, 14. November 2023; Philosophy for Palestine Association des Universitaires pour le Respect du Droit International en Palestine, 8. November 2023; Thomas Ribi: «Die Hamas ist eine nihilistische Organisation»: Die Philosophin Seyla Benhabib stellt sich gegen die antiisraelische Propaganda ihrer Fachkollegen. In: Neue Zürcher Zeitung, 9. November 2023; Michael Hesse: Streit wegen offenem Brief: Nahost erreicht die Philosophie Frankfurter Rundschau, 9. November 2023; Christian Geyer: Judith Butlers philosophischer Ausfall. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. November 2023; Justin Weinberg: Israel & Hamas: Another Letter, Another Critical Response Daily Nous, 6. November 2023; Seyla Benhabib: An Open Letter To My Friends Who Signed “Philosophy for Palestine” The Hannah Arendt Center / Medium, 4. November 2023.
  23. Detlef Georgia Schulze: Worin Nancy Fraser weiterhin irrt. In: Neues Deutschland. 24. Mai 2017. (neues-deutschland.de)